Freitag, 26. Juli 2013

Das weiße Pferd

Ein alter Mann lebte in einem Dorf. Er war sehr arm, aber selbst Könige beneideten ihn, denn er besaß ein wunderschönes weißes Pferd. Sie boten dafür fantastische Summen, aber er verkaufte es nicht. Eines Morgens fand er sein Pferd nicht im Stall.

Das ganze Dorf versammelte sich:
"Du dummer alter Mann"

sagten die Leute:

"wir haben immer gewusst, dass das Pferd eines Tages gestohlen wird. Es wäre besser gewesen, du hättest es verkauft. Welch ein Unglück!"

Der alte Mann aber antwortete:

"Geht nicht so weit, das zu sagen. Sagt einfach, das Pferd ist nicht im Stall. So viel wissen wir, alles andere ist Urteil. Ob es ein Unglück ist oder ein Segen, kann ich nicht sagen, weil ich nicht weiß, was darauf folgen wird."

Die Leute lachten den Alten aus. Sie hatten schon immer gewusst, das er ein bisschen verrückt war. Aber nach fünfzehn Tagen kehrte das Pferd plötzlich zurück. Es war nicht gestohlen worden, sondern in die Wildnis ausgebrochen. Nun kam es wieder und brachte noch zwölf wilde Pferde mit. Gleich versammelten sich die Leute und sagten:

"Alter Mann, du hattest Recht. Es hat sich tatsächlich als Segen erwiesen."

Der Alte entgegnete jedoch:

"Wieder geht ihr zu weit. Sagt einfach, das Pferd ist zurück. Ihr lest nur ein einziges Wort im Satz. Wie könnt ihr das ganze Buch beurteilen?"

Der alte Mann hatte einen einzigen Sohn und der begann die Wildpferde zu trainieren. Eines Tages fiel er vom Pferd und brach sich beide Beine. Wieder versammelten sich die Leute und wieder urteilten sie:

"Du hattest doch Recht- es war ein Unglück. Dein einziger Sohn ist nun verkrüppelt und er war doch die Stütze deines Alters. Jetzt bist du ärmer als je zuvor."

Der Alte aber antwortete:

"Ihr seid besessen vom Urteilen. Geht nicht so weit. Sagt nur, dass mein Sohn sich die Beine gebrochen hat. Niemand weiß, ob dies ein Unglück oder ein Segen ist."

Es begab sich, dass das Land nach einiger Zeit in einen Krieg verwickelt wurde. Alle jungen Männer des Ortes wurden zum Militär eingezogen. Nur der Sohn des alten Mannes blieb zurück, weil er nicht kämpfen konnte. Der ganze Ort war von Wehklagen erfüllt, weil dieser krieg nicht zu gewinnen war. Man wusste, dass die meisten jungen Männer nicht nach Hause zurückkehren würden. Die Menschen kamen zu dem alten Mann und sagten:

"Du hattest wieder Recht, alter Mann. Das Unglück hat sich tatsächlich als Segen erwiesen. Dein Sohn ist zwar verkrüppelt, aber immerhin ist er noch bei dir."

"Ihr hört nicht auf zu urteilen"

Erwiderte der alte Mann:

"Niemand weiß, was kommt. Sag nur, dass man eure Söhne in die Armee eingezogen hat und dass mein Sohn nicht eingezogen wurde. Lernt die Dinge aus höherer Warte zu sehen! Dann werdet ihr ganz von selbst aufhören zu urteilen."

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